1982: Paul Tournier – Medizin des Menschen

Von Andrew Stallybrass

13/08/2021
Paul Tournier 1982 in Caux (credit: Paul Gardner)

 

Paul Tournier 1982 in Caux (credit: Paul Gardner)
Paul Tournier in Caux, 1982

Eine meiner prägendsten Erinnerungen aus über 50 Jahren Caux-Konferenzen stammt aus dem Jahr 1982. Ich sass in einer Dolmetscherkabine über der Grossen Halle und verdolmetschte einen Abend ins Englische, an dem Schweizer Arzt Paul Tournier zu Gast war.

Tournier wurde als der berühmteste christliche Arzt des 20. Jahrhunderts bezeichnet – und er war einer der meistverkauften und meistübersetzten Schweizer Schriftsteller seiner Zeit. Von seinen Büchern wurden zwischen drei und vier Millionen Exemplare in rund 30 Sprachen verkauft. Besonders bekannt war er in Japan und Korea, in seinem eigenen Land vielleicht etwas weniger als im Ausland.

Als Allgemeinmediziner vor dem Zweiten Weltkrieg hatte er das Gefühl, dass viele Probleme seiner Patientinnen und Patienten nicht nur medizinischer Natur waren. Sie brauchten jemanden, mit dem sie reden konnten. Wie die Tournier Association feststellt, begann er, sich mehr Zeit zu nehmen, um seinen Patientinnen und Patienten zuzuhören und mit ihnen zu sprechen, wobei er "nicht nur die physische, sondern auch die psychologische und spirituelle Dimension ihres Seins berücksichtigte."

1940 veröffentlichte er sein erstes Buch, Médecine de la personne (Krankheit und Lebensprobleme), und widmete es Frank Buchman, dem Begründer von Initiativen der Veränderung. Seinem Publikum in Caux sagte er: "Gott hat diesen Mann inspiriert, und es ist vor allem ihm, seinen Freunden und Mitarbeitern und nun Ihnen allen zu verdanken, dass mein Leben fruchtbar geworden ist und dass ich diese neue Sichtweise in die Ärzteschaft einbringen konnte."

 

B. H. Streeter, Theophil Spoerri, Paul Tournier, Lily Ziegler
B.H. Streeter, Theophil Spoerri, Paul Tournier, Lily Ziegler

 

1982 war Tournier 84 Jahre alt, und man hatte ihm einen bequemen Sessel auf das Podium gestellt. Aber er zog es vor, im Stehen zu sprechen. Sein unverwechselbares Lachen hallte durch den Saal. Er erzählte von seiner ersten Begegnung mit der Oxford-Gruppe (später Moralische Aufrüstung und jetzt Initiativen der Veränderung), durch die Veränderung eines unmöglichen Patienten, dessen Tochter er in der ersten Reihe sitzen sah: "Haha!"

Seit 50 Jahren bin ich diesem Notizbuch treu, in dem ich all die Gedanken, die mir kommen, aufschreibe. Dies ist die Grundlage meines Lebens.

Zu Beginn seines Vortrags schwenkte Tournier ein kleines Notizbuch und erzählte von seiner regelmässigen Praxis des hörenden Gebets. "Seit 50 Jahren bin ich diesem Notizbuch treu, in dem ich all die Gedanken, die mir kommen, aufschreibe", sagte er. "Dies ist die Grundlage meines Lebens. Alle, die mir für meine Bücher gedankt haben, sind sich dessen bewusst. Sie spüren, wie viel ich diesem Leben der Stille und des Dienens verdanke, in dem ich den Menschen begegne und sie mir ihr Herz öffnen."

Paul Tournier

Er erklärte weiter: "In der stillen Zeit, im Hören auf Gott, entdeckst du nach und nach, trotz aller Schwierigkeiten, die Probleme in dir, die diesen lebendigen Kontakt verhindern. Wenn wir von der ‚Medizin der Person‘ sprechen, denken wir an die persönliche Beteiligung des Arztes, nicht nur an die des Patienten."

"Ärzte stellen eine medizinische Diagnose", erklärt Tournier, "aber das reicht nicht aus". "Es gibt eine Verbindung zwischen der Gesundheit und all den Lebensproblemen, die der Mensch in sich trägt und der auf der Suche nach Hilfe, nach einer Antwort ist, aber nicht weiss, an wen er sich wenden soll."

Er fuhr fort: "Unsere Aufgabe ist es also, den Ärzten zu helfen, aus ihrem wissenschaftlichen Gefängnis auszubrechen." Dies bedeute nicht, die Wissenschaft aufzugeben, sondern zu verstehen, dass Medizin mehr sei als Wissenschaft. Es gäbe keine Symmetrie, wenn der Arzt Wissen habe und befehle und der Patient nur zu gehorchen brauche. "Wir Ärzte wissen mehr über die Pathologie, aber der Patient weiss mehr über seine Krankheit als wir.", so Tournier.

Es gibt keine Symmetrie, wenn der Arzt Wissen hat und befiehlt und der Patient nur zu gehorchen braucht. 

"Der Arzt muss seine Pflicht als Mann der Wissenschaft erfüllen, der weiss, was der Patient nicht weiss, aber unter einer Bedingung: Er muss akzeptieren, dass es etwas gibt, das der Patient weiss und er nicht – dass der Schmerz des Patienten durch die Probleme, die in schlaflosen Nächten in seinem Herzen umherkreisen, doppelt so stark ist."

Durch diesem Abend entstand ein weiteres Buch, A Listening Ear, das eine bearbeitete Fassung seiner Rede von diesem Abend enthält.

Um 1946 hatte er sich von der Moralischen Aufrüstung distanziert und dieser Abend in Caux stellte so etwas wie eine Versöhnung dar. 

Sein personenzentrierter Ansatz in der Medizin ist heute vielleicht sogar noch notwendiger denn je, denn totz allen medizinischen und technischen Fortschritts bleibt der menschliche Faktor entscheidend.

 

 
 
Lesen Sie Paul Tourniers Buch A Listening Ear

____________________________________________________________________________________

 

Diese Geschichte ist Teil unserer Serie "75 Jahre der Geschichten" über Menschen, die durch Caux eine neue Richtung und Inspiration für ihr Leben gefunden haben - eine Geschichte für jedes Jahr von 1946 bis 2021. Wenn Sie eine Geschichte kennen, die sich für diese Serie eignet, leiten Sie Ihre Ideen bitte per E-Mail an John Bond oder Yara Zhgeib. weiter. Wenn Sie mehr über die Anfangsjahre von Initiativen der Veränderung und das Konferenzzentrum in Caux erfahren möchten, klicken Sie bitte hier und besuchen Sie die Plattform For A New World.

 

 

 

Featured Story
Off
Event Categories
75 stories 75th anniversary

zum gleichen Thema

This is us square 8.png

75 Jahre Geschichten: Unser Team!

Als wir im Februar 2021 die Reihe 75 Jahre der Geschichten über 75 Jahre der Begegnungen im Konferenzzentrum von Initiativen der Veränderung in Caux starteten, hatten wir keine Ahnung, auf welches Abe...

Caux in snow 2021 credit Cindy Bühler

2021: Initiativen der Veränderung Schweiz – Die Türen von Caux für ein neues Kapitel öffnen

Unsere Serie von 75 Geschichten über 75 Jahren der Begegnungen im Konferenzzentrum von Initiativen der Veränderung in Caux neigt sich dem Ende zu. Die Präsidentin von Initiativen der Veränderung Schwe...

Aad Burger

2020: Aad Burger – Den Virus erwischt

Als Reaktion auf die Pandemie ging das Caux Forum 2020 erstmals online. Das Organisationsteam stellte fest, dass Caux dadurch für Menschen auf der ganzen Welt zugänglich wurde, die unter normalen Umst...

Marc Isserles 2017

2019: Marc Isserles – "Wir müssen die Kinder retten"

Beim Caux Forum 2019 präsentierte der Genfer Rechtsanwalt Marc Isserles eine bewegende One-Man-Show, die ein ergreifendes Kapitel der Geschichte des Caux Palace beschrieb....

Wael Broubaker climate actionist

2018: Wael Boubaker – "Der Klimawandel sollte äusserste Priorität sein"

Als der tunesische BWL-Student Wael Boubaker 2018 am Caux Peace and Leadership Programme (CPLP) teilnahm, erwartete er ausser einer schönen Landschaft eine Konferenz, die sich gut in seinem Lebenslauf...

Tanaka Mhunduru CPLP

2017: Tanaka Mhunduru – Ein Zuhause für die Welt

Tanaka Mhunduru aus Simbabwe ist einer der Organisatoren des Caux Peace and Leadership Programme (CPLP), einem einmonatigen Programm für junge Menschen aus der ganzen Welt. Er nahm 2017 zum ersten Mal...

Diana Damsa Winter Gathering 2016

2016: Diana Damsa – "Es gab mir das Gefühl, etwas beitragen zu können."

Die Winterbegegnungen 2016 war für Diana Damsa eine besondere Erfahrung – nicht nur, weil sie Caux im Winter erlebte, sondern auch, weil sie zum ersten Mal seit acht Jahren keine Verantwortung hinter ...

Philippe and Liseth Lasserre

2015: Lisbeth Lasserre – "Der Reichtum der Kunst"

Lisbeth Lasserre stammt aus Winterthur, wo ihre Grosseltern, Hedy und Arthur Hahnloser, in ihrem Haus, der Villa Flora, eine private Kunstsammlung aufgebaut hatten. Zu ihren Künstlerfreunden gehörten ...

Catherine Guisan

2014: Catherine Guisan – Damit Europa kein unvollendeter Traum bleibt

Catherine Guisan ist ausserordentliche Gastprofessorin an der Universität von Minnesota, USA und hat zwei Bücher über die ethischen Grundlagen der europäischen Integration geschrieben. Im Jahr 2014 hi...

Tom Duncan

2013: Tom Duncan – Wiederherstellung eines gesunden Planeten

2013 fand zum ersten Mal der Caux-Dialog über Land und Sicherheit (CDLS) in voller Länge statt. Die Dialoge sind eine Partnerschaft zwischen dem Programm Initiatives for Lands, Lives and Peace (ILLP),...

Merel Rumping

2012: Merel Rumping – Hinken mit Würde

Als Merel Rumping aus den Niederlanden 2012 zum ersten Mal nach Caux kam, hatte sie ein Ziel vor Augen: "Ich wollte herausfinden, wie ich durch meine berufliche Tätigkeit zu einer gerechteren Welt bei...

Lucette Schneider

2011: Lucette Schneider - Entscheidungen, die den Zauber von Caux ausmachen

Viele Jahre lang organisierte die Schweizerin Lucette Schneider das Team, das sich frühmorgens versammelte, um Gemüse für die Küche des Konferenzzentrums in Caux zu waschen, zu schälen und zu schneide...

Mohan Bhagwandas 2003

2010: Mohan Bhagwandas - Bewältigung der Integritätskrise

Mohan Bhagwandas ist sich seines ökologischen Fussabdrucks nur allzu bewusst. In den 13 Jahren von 2006 bis 2019 flog er 17 Mal von seiner Heimatstadt Melbourne (Australien) in die Schweiz, um an den ...

Rajmohan Gandhi 2011 Caux Forum Human Security

2009: Rajmohan Gandhi - Brücken zwischen Indien und Pakistan

25 angesehene Menschen aus Indien und Pakistan kamen 2009 nach Caux, um Brücken zwischen ihren Ländern zu bauen....

Iman Ajmal Masroor

2008: Learning to be a Peacemaker – "Die Augen gegenüber der Welt öffnen"

2008 wurde ein ungewöhnlicher Kurs über den islamischen Ansatz zur Friedensstiftung ins Leben gerufen, der von Imam Ajmal Masroor aus England entwickelt wurde. Der Koordinator des Kurses, Peter Riddel...